Stuttgart
Sanierung Bezirksrathaus
Bad Cannstatt
Das Cannstatter Rathaus wurde 1490/91 erbaut. Im Stadtkreis Stuttgart ist es das mit Abstand größte erhaltene spätgotische Fachwerkgebäude, durchaus vergleichbar mit den Rathäusern von Esslingen oder Tübingen. In über 500 Jahren Nutzung wurde es mehrfach umgebaut und saniert, auch um gravierende Setzungsschäden auszugleichen. Seine südöstliche Ecke liegt über einer Doline und ist um zirka 80cm abgesunken. Seit 1966 ist es eingetragenes Kulturdenkmal. Bei der Sanierung wurden deshalb die Belange des Denkmalschutzes auf ebenso hohem Niveau berücksichtigt, wie die des Bauherrn. Es wurden eine Infotheke, ein Aufzug und ein neues Treppenhaus eingebaut, das Fundament aufwendig verstärkt und der Brand- und Schallschutz nachgebessert. Die städtebaulich wichtige Fassade Richtung Marktplatz wurde repräsentativ umgestaltet und stärkt mit dem neuen Ostportal die räumliche Verbindung zum gegenüber liegenden Verwaltungsgebäude. Während des Entwurfsprozesses war relativ schnell klar, dass der alte Anbau zum Marktplatz abgebrochen wird. Um zusätzlich benötigte Räume unterzubringen, wurde das erste Dachgeschoss für eine Büronutzung ausgebaut.
Geschichte erzählen
Das Gebäude soll durch die Sanierung seine abwechslungsreiche Geschichte erzählen – markant, wie mit den angedeuteten Fensterläden des Treppenhauses. Diese übersetzen die historischen Klappläden in moderne Streckmetallgitter und sollen Fragen aufwerfen: Warum sehen sie ähnlich, aber doch ganz anders aus, als die übrigen Läden? Die Antwort gibt bei näherer Betrachtung der Bau selbst. Das Treppenhaus musste, weil der Bau hier im Laufe der Jahrhunderte 80cm abgesunken war, in Beton erneuert werden. Seine Fenster sind aus Brandschutzgründen nicht zu öffnen. Es gibt Übergänge zwischen den schrägen historischen und den geraden neuen Bauteilen. Dass alles wurde sichtbar gemacht.
An der Ostfassade sieht man ein gerahmtes Fachwerkfeld aus der Erbauungszeit. Beim Rückbau des Anbaus war dieses historische Bauteil mit handwerklichen Spuren auf dem Tragwerk und authentischem Putz mit Resten alter Bemalung wieder sichtbar geworden - eine der vielen Überraschungen des Altbaus. Es wurde zurückhaltend als „Fenster in die Geschichte“ inszeniert, das die Passanten Baugeschichte erleben lässt. Zwei Holzstützen mit geschnitztem Kapitell aus dem ehemaligen Ratssaals des 19. Jahrhunderts im zweiten Obergeschoss wurden besonders umsichtig behandelt: sie werden in respektvollem Abstand umfahren. Die massiven, auf ihrer Achse liegenden Wandstücke, die neue Büros zum Flur abtrennen, wurden minimiert. Der Versatz der dahinter gestellten Wände wird mit einer Glasfuge betont. Der abgestufte Stuckfries über dem zentralen Kapitell darf verschiedene Varianten innerhalb der Nutzungszeit zeigen. Ihr Verlauf verweist heute den interessierten Beobachter auf die repräsentative Größe des historischen Ratssaales.
Reiche Details
Die gestalterische Grundhaltung des Büros bei solchen Aufgaben ist: „Neues soll als solches erkennbar sein. Je wertvoller die Substanz, umso zurückhaltender wird das neue Bauteil eingefügt.“ Diese Haltung zieht sich durch das gesamte Gebäude. Sie betrifft Details ebenso wie die große Form. So ist das Treppenhaus als neues Bauteil zu erkennen. Man sieht sie an schönen Details: Klötze, die Übergänge schaffen, Verwendung von Halbfertigzeugen, die ihre Materialhaftigkeit betonen, Fugen, die Raum schaffen zwischen Alt und Neu. Mitunter entstehen moderne Ornamente: so rahmt das Streckmetall am Treppenhaus den Ausblick mit mäandernden Zacken. Hinter dem Streckmetall verspringt der Putz in Bändern, die auf die Schräge der angrenzenden Bestandswand eingehen. Die Tür des Ostportals ist verspielt mit flächigen und grafischen Elemente aus Kupfer gestaltet, die das Licht weicher machen. Sie lenken den Blick, wie die geschnitzten Ornamente der historischen Eingangstür auf der Westseite. Andere Details verstärken die räumliche Großzügigkeit. So sind die Last tragenden Stahlstützen im Erdgeschossflur dennoch dezent und leicht.
Angenehme Materialien
Die Materialien schaffen positive Angebote für alle Sinne. Der Kalkputz im Innenraum ist mit Kalk weiß getüncht. Dadurch werden die Wände ein angenehmes Raumklima schaffen und die Luftfeuchtigkeit ausgleichen. Dämmputz außen und sein Oberputz aus reinem Kalk enthalten keine Biozide. Die neuen Gewände des Treppenhauses sind aus sandgestrahltem Beton. Bei der Produktion wurde in die Schalung Kies eingestreut, so dass ihre Oberfläche besonders lebendig ist. Ein dunkler Terrazzo mit hellen Zuschlägen bindet die öffentlichen Flächen der Flure und des Treppenhauses zusammen. In den Büros ist Eichenparkett verlegt.
Farbe und Grafik
Das zurückhaltende Farbkonzept konzentriert sich auf ein Veronesergrün der Fensterrahmen und ein damit korrespondierendes Blau. Dieses betont die Treppenkonstruktion und die Stelen vor wichtigen Nutzungen. Zudem gibt es noch ein ganz lichtes Grün auf den Türen, „Malachit“ genannt. Sonst strahlt fast alles in klarem Kalkweiß, das den Raum vergrößert. Das Leitsystem der Grafikerin Caroline Pöll nimmt das Thema Streckmetall grafisch auf und fasst alle Informationen übersichtlich zusammen. Außen wirkt der reine Kalkputz mit etwas hellem Ocker und Zuschlägen aus schwarzem Marmorsplitt edel.
Schöne Augen
Mit einem Farbakzent machen die Fenster des Gebäudes den Vorübergehenden schöne Augen. Die historischen Giebelfenster aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden weitgehend erhalten. Nur die Fenster aus den 1970er Jahren wurden komplett erneuert. Bei ihren Profilen wurde um jeden Millimeter gerungen.
Energetische Ertüchtigung
Die Energieeinsparverordnung (EnEV) konnte trotz Denkmalschutz eingehalten werden, der Energieverbrauch wurde damit halbiert. Nach sechs Jahren Planungs- und Bauzeit ist ein modernes Denkmal entstanden, das nutzerfreundlich, von hohem ästhetischem Wert und auch energetisch auf der Höhe der Zeit ist. Die gründliche Sanierung wurde in enger Abstimmung mit den Denkmalschutzbehörden geplant, so dass heute mehr Nutzungskomfort, angenehme Materialien und handwerkliche Oberflächen zu erleben sind.
Planung und Ausführung |
2007–2013 |
Bauherr |
Stadt Stuttgart, Hochbauamt |
Mitarbeit |
Mareike Richter |
Bauphysik |
Höfker Nocke Bückle Partnerschaft |
Fotos |
Christian Kandzia, Esslingen
Christoph Manderscheid
Johannes-Maria Schlorke, www.j-ms.de |
Text |
Achim Pilz, www.bau-satz.net |
|
Auszeichnungen |
2019 |
Nominierung für den
"
Dr. Ursula Broermann Preis für beispielhaftes barrierefreies Bauen 2019" |
© Manderscheid Partnerschaft |